Karel Van Hulle zur Einführung von Solvency II

„Proportional und zweckmäßig soll es sein.“

Karel Van Hulle (Foto, © Linelle Deunk)

Notwendig, aber auch kritisch zu hinterfragen, ist Solvency II

Mit Solvency II ist ein umfassendes Reformregelwerk vom Stapel gelaufen. Es wird dafür sorgen, die Branche risikobewusster und robuster zu machen.

Es ist vollbracht, die neue EU-Richtlinie Solvency II ist per 1. Jänner 2016 in Kraft getreten. Dennoch bleibt diese für alle betroffenen Parteien eine Herausforderung: Den Versicherungsunternehmen ist teilweise nicht klar, warum sie in Zeiten von Niedrigzinsen ein risikobasiertes Solvenz-Regime einführen sollten. Für die Aufsichtsbehörden ist es auf der anderen Seite nicht leicht, in einem Umfeld zu arbeiten, das Versicherungen mehr Freiheiten lässt, als dies unter Solvency I der Fall war. Für die Regulatoren ist ein System, das weitestgehend von der EU gesteuert wird, eine Novität. Für die Kunden bringt Solvency II nicht nur wesentlich mehr, sondern vor allem neue Informationen, die auf Konzepten und Ideen beruhen, die nicht gebräuchlich und damit schwer verständlich sind.

Trotzdem: Diese Reform ist notwendig und längst fällig. Die Versicherungsbranche kann sich nicht mehr länger in einer Ecke verstecken, wie das in der Vergangenheit oft üblich war. Die Finanzmärkte haben sich verändert, funktionieren nicht mehr so, wie wir das gewohnt waren. Die Risiken sind zahlreich und der einzige Weg, in diesen Zeiten erfolgreich zu sein, ist Risikomanagement und Governance wesentlich zu verbessern. In diesem Sinne ist es falsch, sich zu sehr auf das Thema Kapital zu fokussieren. Solvency II ist mehr als das.

Solvency II ist nicht perfekt. Natürlich hätten sich alle Beteiligten gewünscht, dass sich Solvency II in einem kürzeren Zeitraum entwickeln lässt, zumal das Ergebnis nicht perfekt ist. Allerdings war auch nie angedacht, dass dieses derart komplexe Regulatorium vom ersten Tag an perfekt ist. Es wurde sehr viel Aufmerksamkeit darauf gelegt, dass das System flexibel ist, damit Änderungen gemacht werden können, wenn diese erforderlich sind. Es wird einige Jahre dauern, bis diese Reform vollständig verstanden und umgesetzt wird. Das sollte eigentlich kein Problem darstellen, wir müssen diesen Umstand nur akzeptieren.

Gerade weil die Regelungen bereits mit Inkrafttreten so umfangreich sind, muss jedoch vermieden werden, diese noch komplizierter zu machen. Es ist wichtig, die Implementierung von Solvency II nun in der Praxis genau zu beobachten. Nationale Regulatoren tendieren dazu, dem EU-Regulatorium noch weitere Regeln hinzuzufügen. Es ist zu hoffen, dass die europäischen Behörden ein Auge auf diese Spielart der Überregulierung haben. Die Versicherer sollten solche Auswüchse auch in Brüssel beanstanden.

Prinzip der Proportionalität. Die meisten der betroffenen Versicherungen sind kleine oder mittlere Unternehmen. Daher ist es wichtig, die Art, Größe und Komplexität des Unternehmens zu berücksichtigen – nicht nur in Bezug auf die Regulierung, auch in Bezug auf die Art der Aufsicht. Hier muss Proportionalität gewährleistet sein. Das heißt nicht, dass ein Versicherungsunternehmen von der Einhaltung einer wichtigen Regel ausgenommen wird. Sondern, dass die Regel auf die spezielle Situation von kleinen oder weniger komplexen Einheiten angepasst wird.

Das Prinzip der Proportionalität im Regelwerk einzubauen, war nicht einfach. Nach vielen Diskussionen fand eine Reihe von Fallbeispielen in Solvency II spezielle Berücksichtigung. Diese Beispiele betreffen die drei Säulen von Solvency II: vereinfachte Kalkulationen der technischen Rückstellungen (Säule 1), reduzierte Anforderungen an das Governance System (Säule 2) und vereinfachtes Reporting (Säule 3).

Proportionalität bei den Aufsichtsbehörden einzuführen, stellt ebenso eine Schwierigkeit dar. Es ist viel einfacher, Regeln so anzuwenden, wie sie festgeschrieben sind, als ein Unternehmen aus der Sicht der Proportionalität und Zweckmäßigkeit zu betrachten. Versicherer und Aufsichtsbehörden sollten daher in einen echten Dialog treten, der nicht zu einem Monolog werden darf. Bei der Betrachtung der derzeitigen Abläufe, bekommt man den Eindruck, dass dieses Ziel noch nicht erreicht ist. Denn nichts ist schwieriger, als eingespielte Praktiken zu durchbrechen.

Regelwerk kritisch prüfen. Solvency II ist ein Projekt, das stufenweise implementiert wird. Die lange Dauer der Verhandlungen hat es immer komplexer gemacht: Die Versicherungsindustrie wollte klare Prinzipien, um Diskussionen mit den Aufsichtsbehörden zu vermeiden, und die Aufsichtsbehörden wollten ganz detaillierte Regeln, um für die Diskussion mit der Versicherungsindustrie gewappnet zu sein.

Wir müssen jetzt lernen, mit dieser Menge an Regeln und Leitlinien zu arbeiten. Es ist zu hoffen, dass uns die Erfahrung zeigen wird, dass wir einen Teil davon gar nicht brauchen. Ich lade alle betroffenen Parteien ein, Solvency II kritisch zu prüfen und Bereiche, wo Veränderungen nützlich oder notwendig wären, zu identifizieren.

Jahrelange Arbeit als Regulator hat gezeigt, dass nicht alles reguliert werden sollte und dass Regulierung eine gewisse Flexibilität braucht. Dabei muss sichergestellt werden, dass Solvency II, welches in Zusammenarbeit mit allen Beteiligten entstanden ist, seinen Zweck erfüllt.

Zur Person

Karel Van Hulle lehrt als Honorarprofessor an der Goethe Universität Frankfurt sowie als Associate Professor an der KU Leuven. Zudem ist er Vorsitzender der Interessensgruppe Versicherung und Rückversicherung der EIOPA. In seiner ehemaligen Position als Leiter des Referats „Versicherungen und Altersvorsorge“ bei der Europäischen Kommission war Van Hulle an der Entwicklung und Vorbereitung von Solvency II beteiligt.