„Wir haben noch Luft nach oben“
Als Pionier braucht man vor allem zweierlei: eine gehörige Portion Mut und einen langen Atem. So manches heimische Unternehmen hat nach dem Fall des Eisernen Vorhangs diese Tugenden an den Tag gelegt und offensiv in den damals neuen Markt Zentral- und Osteuropa investiert. Vier von ihnen erklären hier, warum sie nach wie vor von diesem Schritt überzeugt sind und was sie für die Zukunft planen.
Der Wiener Ringturm ist mehr als das erste Bürohochhaus Österreichs. Bei ihrer Eröffnung 1955 war die Konzernzentrale der Vienna Insurance Group ein Symbol der wiedererlangten Freiheit des Landes und des gerade beginnenden wirtschaftlichen Aufstiegs. Nur wenige Kilometer weiter östlich sah die Situation allerdings ganz anders aus. Europa war geteilt und im Osten des Kontinents herrschten Unfreiheit und Planwirtschaft.
Dass Österreich über viele Jahrzehnte vom Wirtschaftsraum Zentral- und Osteuropas abgeschnitten war, ist heute im Ringturm nicht mehr spürbar. Im Gegenteil – wer heute das Eingangsfoyer der Konzernzentrale betritt, ist sofort umringt von zentraleuropäischer Vielfalt. Deutsch, Kroatisch, Tschechisch, Rumänisch – an jeder Ecke wird eine andere Sprache gesprochen.
Wohlstandsangleichung bringt Wachstum
Als Anfang der 1990er Jahre der Eiserne Vorhang fiel, haben viele heimische Unternehmen diese Chance beim Schopf gepackt und intensiv in CEE investiert. „Ohne die Expansion in die Nachbarländer gäbe es die heimischen Banken in dieser Form gar nicht mehr“, ist Erste Group CEO Andreas Treichl von der Wichtigkeit des damaligen Schrittes überzeugt. „Diese Expansion war für uns sowie für die gesamte heimische Wirtschaft ein ganz wichtiger Schritt. Und dieser basierte auf der Annahme, dass es zu einer Angleichung des Wohlstandes an den in Westeuropa kommen wird.“ Treichl macht das an der Tatsache fest, dass die Regionen rund um Prag und Bratislava heute bereits wohlhabender sind als der EU-Durchschnitt.
Ein Aufholprozess, der anderen Ländern in CEE noch bevorsteht und der noch längst nicht abgeschlossen ist. Das manifestiert sich nicht zuletzt in den Wachstumsraten dieser Länder im Vergleich zu Westeuropa. Während der jährliche Zuwachs des Bruttoinlandsprodukts zwischen 2016 und 2019 in der Eurozone mit 1,5% erwartet wird, liegt etwa die Prognose für die Slowakei bei 3,6% oder für Polen bei 3,3%. Es kommt nicht von ungefähr, dass die Erste Group Tochterbanken in der Tschechischen Republik und der Slowakei heute drei Viertel zum Ertrag des Konzerns beitragen.
Auch die Vienna Insurance Group ist stark in CEE verankert und in vielen Ländern dieser Region Marktführer. „Wir haben bereits 1990 in die damalige Tschechoslowakei investiert und mittlerweile sind wir klarer Marktführer in unseren Märkten Österreich und CEE“, erklärt Elisabeth Stadler, CEO der VIG. Heute erzielt der Versicherungskonzern rund die Hälfte seines Gewinns in der CEE-Region, bei den Prämien liegt der Anteil sogar etwas über 50%.
Kein gesättigter Markt in CEE
Was CEE als Markt so interessant macht, ist die Tatsache, dass das Aufholpotenzial, im Sinne der Durchdringung mit unterschiedlichen Produkten, noch lange nicht abgeschlossen ist. „Während wir in Österreich von einem durchaus gesättigten Versicherungsmarkt sprechen, wo Themen wie Vorsorge und Gesundheit einen hohen Stellenwert haben, stehen in den meisten CEE-Staaten nach wie vor die Absicherung der materiellen Werte wie Auto, Haus oder Wohnung im Vordergrund“, so Stadler. Entsprechend liegen die Ausgaben für Versicherungen in CEE heute erst bei rund einem Zwölftel des österreichischen Niveaus.
Die steigende Lebensqualität und Kaufkraft führen zu zunehmender Nachfrage nach höherwertigen Produkten und Dienstleistungen. Das bestätigt auch Oliver Schumy, CEO der Immofinanz: „In CEE erzielen wir aktuell den Großteil unserer Mieterlöse. Je kräftiger das Wirtschaftswachstum ausfällt, desto besser gestaltet sich die Nachfrage nach modernen Büroflächen. Eine steigende Kaufkraft wiederum, die von Lohnwachstum und höheren Beschäftigungsraten gestärkt wird, führt zu höheren Umsätzen der Einzelhändler in unseren Shopping Centern und Retail Parks.“
Schumy betrachtet CEE unverändert als wichtigen Wachstumsmarkt. In sämtlichen Ländern der Region, in denen die Immofinanz tätig ist, sind die Investmentvolumina 2016 gestiegen. Für ihn ist auch noch der Aspekt der größeren Spielräume hinsichtlich öffentlicher Budgets wichtig. „Die osteuropäischen Länder weisen eine vergleichsweise geringe Staatsverschuldung auf. Budgetdefizite in der Region befinden sich auf niedrigem Niveau. Auch haben sich die Länder in puncto Wettbewerbsfähigkeit verbessert. Dies sind allesamt Faktoren, die für die Region sprechen“, erklärt Schumy.
Technologie- und Innovationsmotor
Für Alejandro Plater, CEO und COO der Telekom Austria Group, ist ganz klar, dass der heutige Mehrheitseigentümer, América Móvil, auch wegen der Chancen in Osteuropa investiert hat. Neben dem wirtschaftlichen Aufwärtstrend in diesen Märkten führt er aber noch ein weiteres, sehr zentrales Pro-CEE-Argument ins Treffen: die Innovationskraft der Menschen vor Ort. „Vor allem hinsichtlich technologischer Veränderung und Digitalisierung sehen wir viele Chancen. Hier hat Osteuropa enormes Potenzial. Viele unserer unternehmensinternen Innovationen kommen von außerhalb Österreichs. Weißrussland war der erste Markt, wo wir unser Netzwerk vollständig virtualisiert haben und Teile unserer neuen TV-Produkte wurden in Kroatien entwickelt“, so Plater.
Neben der Möglichkeit zu organischem Wachstum bietet CEE natürlich auch Chancen für Zukäufe. „In unserer Branche werden wir eine weitere Konsolidierung erleben, vor allem im Festnetz-Bereich. Alleine in Bulgarien gibt es zum Beispiel über 300 regionale Kabelgesellschaften, das bringt in einem Skalengeschäft auch für die Konsumenten keine Vorteile. Unsere Strategie ist auf Wachstum ausgerichtet: im Kerngeschäft, mit neuen Produkten und nicht zuletzt durch Akquisitionen“, erklärt Plater.
Weitere Zukäufe sind auch eine Option für die VIG, die mittlerweile schon mit rund 50 Gesellschaften in der Region tätig ist. CEO Stadler hat schon verkündet, Appetit auf mehr zu haben. „Das umfasst sowohl organisches Wachstum durch bestehende Geschäftserweiterungen als auch Zukäufe. Bei all unseren Überlegungen muss natürlich immer die Profitabilität im Vordergrund stehen. Was sich nicht rechnet, bleibt für uns tabu.“ Damit soll die Position als größte Versicherungsgruppe in Österreich und CEE abgesichert und ausgebaut werden.
Zuversicht und Appetit auf mehr
Ob ein Wirtschaftsraum das ihm gegebene Potenzial auch ausschöpfen kann, liegt nicht zuletzt an der Grundstimmung und Einstellung der Bevölkerung. Telekom Austria Chef Plater attestiert den Menschen in CEE einen größeren Wunsch nach Veränderung und einem besseren Leben. „Im Westen hingegen überwiegt derzeit der Pessimismus, wenn auch völlig unbegründet. Das hat natürlich starke Auswirkungen auf Investitionen und damit die wirtschaftliche Entwicklung. Wir brauchen eine neue Aufbruchsstimmung und das Zeitalter der Digitalisierung bietet dafür genügend Anlass“, meint Plater.
Auch Erste Bank CEO Treichl erklärt das stärkere Wachstum im Osten des Kontinents zum Teil mit der unterschiedlichen Herangehensweise: „Das hängt meiner Meinung auch damit zusammen, dass die Menschen in dieser Region ihren Wohlstand mehren wollen, an sich glauben und daher bereit sind, Risiko zu übernehmen. Das ist im Westen Europas in dieser Form fast nicht mehr zu finden.“
Dieser Wille nach mehr hievt CEE auf absehbare Zeit in die ökonomische Poleposition. Österreich grenzt an diesen Wirtschaftsraum und profitiert überdurchschnittlich von diesem Aufwärtstrend, weil viele heimische Unternehmen den Sprung vom ehemaligen „Local Player“ zur festen Größe in CEE geschafft haben. Die Zukunft dieser Unternehmen baut auf dieser Wachstumsregion auf.
Es ist ein Zusammenwachsen im besten Sinne des Wortes, das von Konzernen wie diesen getragen wird. Die Größenordnungen bringt Elisabeth Stadler von der VIG auf den Punkt: „Zu Beginn der Ost-Expansion lag unser Prämienvolumen bei EUR 1 Mrd. Heute stehen wir bei etwas über EUR 9 Mrd. und wir haben noch Luft nach oben.“